E-Health-Gesetz: Was können wir vom neuen Medikationsplan erwarten?

20. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik nimmt den Medikationsplan ins Visier

Gruppenbild 20. ED
Unterschiedliche Positionen, diverse Kritikpunkte, ein Fazit: Der Medikationsplan ist stark verbesserungswürdig. V. l. n. r.: Dr. Thomas Müller-Bohn, Dr. Ulf Maywald, Prof. Dr. Gerd Glaeske, Dr. Monika Schliffke, Prof. Dr. Edgar Franke, Prof. Dr. med. Achim Jockwig

(Hamburg) Eine sichere Arzneimitteltherapie durch Interprofessionalität: Das ist das Anliegen des Medikationsplans, der am 1. Oktober dieses Jahres an den Start gegangen ist. Das Zusammenwirken von Ärzten und Apothekern mit dem berufsübergreifenden Blick auf die Gesamtmedikation und deren Stimmigkeit soll Patienten, die mehr als drei Arzneimittel einnehmen, vor unerwünschten Wirkungen schützen und zu einer besseren Beratung führen. Erste Studien nach Inkraft-treten zeigen, dass dem Potenzial des Medikationsplans in der Praxis zu wenig Beachtung geschenkt wird, ein interdisziplinärer Austausch kaum stattfindet, da Apotheker weitgehend ausgeschlossen sind, und Patienten zu wenig Kenntnis von ihrem Anspruch auf einen Medikationsplan haben. Da läuft einiges nicht rund bei der Umsetzung einer im Grundsatz guten Maßnahme für die Versicherten. Der Medikationsplan bleibt hinter den Erwartungen zurück und bildet bestenfalls eine erste Grundlage für ein gelingendes Medikationsmanagement. Der 20. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik diskutierte am 6. Dezember 2016 die Frage „E-Health-Gesetz: Was können wir vom neuen Medikationsplan erwarten?“

Referenten
  • Dr. Edgar Franke, MdB

    SPD-Fraktion

  • Prof. Dr. Gerd Glaeske

    Co-Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen

  • Dr. Ulf Maywald

    AOK Plus

  • Dr. Monika Schliffke

    KV Schleswig-Holstein

  • Dr. Thomas Müller-Bohn

    Apotheker und Journalist

Prof. Dr. Edgar Franke (MdB, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages) musste sich sowohl aus der Reihe der Referenten als auch dem Auditorium Missbilligungen gefallen lassen und war selbst alles andere als kritiklos. Unumwunden räumte er eine, dass der Medikations-plan einige politische Feinjustierungen benötigt. Insbesondere müsste die Rolle der Apotheker und Apothekerinnen präzisiert werden. Franke nahm bei einem spannenden Eppendorfer Dialog kein Blatt vor den Mund: „Im Ausland staunt man, wie wir da rumgemurkst haben und nun mit einem Barcode-Medikationsplan anfangen. Man muss aber auch sagen, dass die Ärzteschaft alles getan hat, damit es mit der elektronischen Gesundheitskarte nicht klappt. Immerhin haben wir für die Versicherten die ersten Schritte gemacht und sind mit dem Medikationsplan auf einem guten Weg.“ Nicht ohne Stolz wies Franke darauf hin, dass man innerhalb einer Legislaturperiode 16 Gesundheitsgesetze verabschiedet habe. Aus seiner Sicht eine Bestätigung dafür, dass die Regierung willensstark an der Verbesserung der Patientenversorgung arbeitet. Zweifel bestehen jedoch nicht am Willen, sondern vielmehr an der Umsetzung, die mehr Unmut erzeugt als Vorteile bringt.

Initiator und charmanter Moderator des 20. Eppendorfer Dialogs zur Gesundheitspolitik war zum dritten Mal Prof. Dr. med. Achim Jockwig (Geschäftsführender Direktor der Carl Remigius Medical School, einer Einheit des Fachbereichs Gesundheit & Soziales der Hochschule Fresenius). Jockwig hatte mit Gespür für die vielen Fragezeichen rund um den Medikationsplan einen versierten Referentenkreis eingeladen, der aus unterschiedlichen Blickrichtungen Stellung beziehen und mit dem höchst interessierten Auditorium der stets öffentlichen Forums diskutieren konnte. Neben dem Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages brachten Prof. Dr. Gerd Glaeske (Versorgungsforscher, Co-Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege & Alterssicherung der Universität Bremen), Dr. Ulf Maywald (Bereichsleiter Arzneimittel der AOK PLUS, Verantwortlicher für ARMIN), Dr. Monika Schliffke (Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein) und Dr. Thomas Müller-Bohn (Apotheker und Dipl.-Kfm., Autor, auswärtiges Mitglied der Redaktion der Deutschen Apotheker Zeitung) ihre Einschätzung zu dem, was vom Medikationsplan zu erwarten ist, in die Debatte ein.

Gut gedacht, aber ohne interprofessionelles Medikationsmanagement unvollständig gemacht

Das Ziel muss ein interprofessionelles Medikationsmanagement sein, appellierte Prof. Gerd Glaeske. Doch leider sei die Gleichberechtigung der Professionen im Medikationsplan bislang nicht vorge-sehen. „Damit der Medikationsplan ein wesentlicher Baustein der Arzneimitteltherapiesicherheit werden kann, müssen alle Akteure einbezogen werden. Dazu gehören neben Patienten und Arzt selbstverständlich Apotheker und auch die Pflegenden“, so der renommierte Arzneimittelversor-gungsforscher. „Wir verschenken Kompetenz und die Chance des interdisziplinären Ansatzes, der als einziger gewährleistet, dass die gesamte Lebenssituation von Patienten berücksichtigt wird.“ In Anbetracht der demografischen Entwicklung bedeuten die altersassoziierten und altersbedingten Multimorbiditäten besondere Anforderungen in der Versorgung. Schon heute weisen die Hälfte der über 65-Jährigen drei oder mehr relevante chronische Erkrankungen nebeneinander auf. 35 % der Männer und 40 % der Frauen in dieser Altersgruppe nehmen 9 und mehr Wirkstoffe in Dauertherapie ein. „Mit der Gefahr von Medikationsinteraktionen, die bei der Einnahme von vier Arzneiwirkstoffen im Durchschnitt 38 % beträgt, und der Folge von 10,2 % daraus resultierender Krankenhausein-weisungen mit einem Kostenfaktor von 700-800 Millionen Euro pro Jahr.“ Glaeske nannte den enormen Anteil der Benzodiazepin-Einnahme älterer Menschen – und das möglicherweise dadurch erhöhte Risiko für Demenz. Er sprach über die häufige Verschleierung durch Privatrezepte – beispielsweise für Zolpidem –, die nicht auffallen. „Die Chance, die der Medikationsplan gerade multimorbiden Patienten bieten sollte ist, dass sich interprofessionell mit dem Medikamenten-management beschäftigt wird. Alles absetzen und von vorne anfangen: Für viele ist das ein echter Gesundheitsgewinn.“ Ohne geregelte und gleichberechtigte Interprofessionalität könne der Medikationsplan und ab 2018 die eHealth-Card den Patienten nicht zugutekommen. Glaeske appellierte an Franke: „Lassen Sie uns den Medikationsplan evaluieren, um Patienten den eigentlichen Nutzen zu geben.“

ARMIN soll Vorreiter für das neue E-Health-Gesetz sein, zeigt jedoch nicht die Realität

Dr. Ulf Maywald (Bereichsleiter Arzneimittel der AOK PLUS, Verantwortlicher für ARMIN) stellt das Modellprojekt ARMIN der Kassenärztlichen Vereinigungen Sachsen und Thüringen, des Sächsischen und Thüringer Apothekerverbandes sowie der AOK PLUS vor. Er selbst glaubt nicht, dass ein perfektes Medikationsmanagement möglich ist. „Aber immerhin machen wir Schritte in die richtige Richtung.“ Wenn Medikationspläne und Medikationsanalysen wirklich vollständig und korrekt sein sollen, braucht man die kompletten Daten über verordnete und frei gekaufte Medikamente. Bei ARMIN ist das gewährleistet, da sowohl die beteiligten Ärzte und Apotheker, aber auch die Krankenkasse und Patienten den Medikationsplan speisen. Das geschieht immer in derselben elektronischen Datei. ARMIN profitiert von einer starken Strukturierung des Betreuungskonzeptes der Patienten. Alle Abläufe sind klar geregelt. Die Bewertung der klinischen Situation des Patienten gehört zur Regel, es gibt eine umfassende Medikationsanalyse. Dass auf diesem studienmäßig strukturierten Weg ein interdisziplinäres Medikationsmanagement funktioniert und positive Ergebnisse bringt, ist nachvollziehbar. Dass sich das Modell nicht mit der Realität in der Praxis messen lasse, ebenso. Maywald bemängelte, dass das System ohne eHealth-Card für den Arzt kompliziert ist, nicht adäquat honoriert wird, es keine bundeseinheitlichen Vorgaben für die Medikationsliste gibt, und das Ausstellen des Medikationsplans nicht dokumentiert wird. „Wenn wir die Prozesse nicht hinbekommen und Transparenz schaffen, werden wir auch die Arzneimitteltherapiesicherheit nicht verbessern.“

Es gibt bessere Möglichkeiten, Medikationsdaten zu dokumentieren

Ähnlich die Beurteilung von Dr. Monika Schliffke (Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein). Sie fügte als Kritikpunkte hinzu, dass es an einheitlichen Strukturen und softwaregestützten Interaktionsprüfungen mangelt. Bislang haben nur rund 25 % der Patienten mit mehr als drei Medikamenten einen Medikationsplan. In ca. 15-20 % der Verordnungen sei die Indikationszuordnung zweifelhaft, so Schliffke. Zudem würden Patienten selten ihre Selbstmedikation angeben, fast nie nach Aktualisierungen fragen und den Medikationsplan überhaut selten dabei haben. Patienten in Pflegeeinrichtungen fielen grundsätzlich durch das Raster. „Das ist ein so komplexes und kompliziertes System, dass es schwierig ist, damit umzugehen. Betriebswirtschaftlich ist das Ganze ein Flopp“, so Schliffke. „Wir meinen: Zukunft geht anders. Zum Beispiel mit einer „MyTherapy“-App, die einen bundeseinheitlichen Medikationsplan auf das Smartphone bringt.“

Keine organisierte Kommunikation zwischen Arzt und Apotheker

Es wäre klasse, wenn der Medikationsplan zwischen den Heilberuflern abgestimmt würde, proklamierte Dr. Thomas Müller-Bohn (Apotheker und Dipl.-Kfm., Autor, auswärtiges Mitglied der Redaktion der Deutschen Apotheker Zeitung). Er äußerte Unverständnis, dass Apotheken als Schnittstellen der Versorgung und mit ihrer pharmazeutischen Betreuungskompetenz nicht stärker in den Medikationsplan integriert werden. Müller-Bohn: „Wer könnte Medikation besser koordinieren? Apotheker kennen die Arzneimittel aller Fachärzte und die Selbstmedikation der Patienten.“ Leider findet keine koordinierte Zusammenarbeit statt, und der Apotheker wird auch nicht für sein Zutun honoriert. Die Enttäuschung über die Nebenrolle, die die Apotheker beim Medikationsplan spielen, wäre somit verständlich. Müller-Bohn konstatierte, dass sich eine Leistung, die nicht honoriert wird, auch nicht etabliert „Wir sehen uns doch nicht als Konkurrenz zum Arzt, sondern als kompetente Mitwirkende an einem komplizierten und fehleranfälligen Prozess zum Wohl der gemeinsamen Patienten.“ So bleibt großes Potenzial ungenutzt, vieles – wie etwa auch der Umgang mit PKV-Patienten – unklar, und es stellt sich die große Frage, wie es gelingen kann, dass der Plan „in“ wird.

Im Fazit aller Referenten des 20. Eppendorfer Dialogs steht: Die Realität bleibt weit hinter ARMIN zurück; der Medikationsplan kann die Erwartungen nicht erfüllen. Seit 2006 gilt der Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik als Seismograph für Stimmungslagen in allen Bereichen des Gesundheitssystems. Bereits zum 20. Mal fand die öffentliche Debatte am 6. Dezember 2016 in Hamburg statt.

Präsentationen der Referenten:

Prof. Dr. Gerd Glaeske Der neue Medikationsplan – gut gedacht, aber auch gut gemacht?

Dr. Ulf Maywald Erfahrungen und Ausblick aus dem Modellprojekt ARMIN

Dr. Thomas Müller-Bohn Medikationsplan: In welcher Rolle sieht sich der Apotheker?

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