Zu wenig Forschung für seltene Krankheiten

6. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik diskutiert Therapiemöglichkeiten bei Orphan Diseases

Allein unter vielen: Das Schicksal von Menschen mit einer der rund 7.000 seltenen Krankheiten (Orphan Diseases). Kennzeichnend für seltene Krankheiten ist, dass weniger als 5 von 10.000 Personen betroffen sind. Ein Umstand, durch den diese Erkrankungen lange im Schatten der Forschung und der Versorgung standen. Erst in den letzten Jahren ist das wissenschaftliche Interesse an seltenen Krankheiten gewachsen – das wirtschaftliche wird langsam belebt. Trotzdem mangelt es aus Experten- und Patientensicht weiterhin an Informationsnetzen, gesicherten Therapiemöglichkeiten und vor allem an einem Evidenz-Verständnis, das der Seltenheit dieser Leiden Rechnung trägt. Wie lassen sich Zulassungshürden abbauen und Forschungsanreize für seltene Krankheiten setzen? Fragen im Mittelpunkt des Eppendorfer Dialogs am 8. Juli 2009.

Referenten

Seltene Krankheiten: 40% Fehldiagnosen und zu wenig Therapiemöglichkeiten

Seltene Krankheiten: Davon sind in Deutschland rund vier Millionen, in der EU etwa 36 Millionen Menschen betroffen. Bei diesen Krankheiten mit geringer Prävalenz mangelt es an Forschungsaktivitäten, fundierten Therapiemöglichkeiten und sachgerechten Patienteninformationen. Daher rutschen Orphan Diseases-Patienten leicht durch das medizinische Netz. Die Zeit bis zur korrekten Diagnose einer seltenen Krankheit dauert nach einer EU-Studie viel zu lange: 25% erhalten eine Diagnose erst nach 5-30 Jahren, bei 40% wird zunächst eine falsche Diagnose gestellt. Experten begrüßen internationale Einrichtungen wie das Office of Rare Diseases Research und die Programme der Europäischen Kommission, zu denen auch die Bildung einer Task Force „Seltene Krankheiten“ gehört. Auf EU-Ebene beschäftigt sich diese Task Force u. a. mit der epidemiologischen Untersuchung seltener Krankheiten, klinischen Prüfungen, dem Aufbau von Referenzzentren etc.. Im November 2008 hat die Europäische Kommission eine Empfehlung für ein EU-Programm im Bereich seltener Krankheiten angenommen.

Die Forschung an seltenen Krankheiten wird in Deutschland zu wenig gefördert

Für Deutschland sehen Experten allerdings drei große Hürden:

  • die Unterfinanzierung der biomedizinischen und klinischen Forschung
  • das Fehlen von Versorgungsforschung beim Thema seltene Krankheiten
  • die übertriebene Forderung nach Nutzenbelegen auf höchstem Evidenzniveau.

Manch einer plädiert für ein „best evidence“-Prinzip bei seltenen Krankheiten: Bei Fehlen hochwertiger Studien sollten angemessene Therapiemöglichkeiten notfalls auf der Basis von Daten niedrigerer Evidenzstufen möglich sein. Die in der Routineversorgung anfallenden Behandlungsdaten müssten dabei in Patientenregistern oder anderen geeigneten Studien gesammelt und ausgewertet werden.

Auch aus Sicht von Frau Prof. Bruckner-Tuderman sind die Voraussetzungen für die Grundlagen­forschung zu seltenen Krankheiten in Deutschland unzureichend. Tatsächlich gibt es hierzulande lediglich 15 Netzwerke für seltene Krankheiten, die nur bis 2011 über das Bundesministerium für Forschung und Bildung gefördert werden. Weitere Perspektiven bestehen nicht. Ohne Patientenregister und Kompetenznetzwerke ist eine klinisch-diagnostische Forschung jedoch nicht möglich. Prof. Bruckner-Tuderman erläutert am Beispiel der Epidermolysis bullosa (EB), dass es auch anders geht. In Deutschland gibt es ca. 2.000 Patienten, in Europa ca. 30.000 mit extremer Fragilität der Haut und dadurch stark erhöhtem Hautkrebsrisiko. Das Kompetenznetzwerk EB hat Referenzzentren und Materialdatenbanken ins Leben gerufen. Das Ergebnis ist ermutigend: Die Diagnostik konnte verbessert und aufgrund der High-impact-Forschung konnten neue Therapiemöglichkeiten für diese seltene Krankheit entwickelt werden.

Ohne Grundlagendefinition macht Versorgungsforschung an seltenen Krankheiten keinen Sinn

Der Forderung nach konsequenter Versorgungsforschung stimmt der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Dr. Hess, zu. Allerdings gehe das nicht ohne definierte Grundlagen für seltene Krankheiten, die der normativ entscheidende G-BA für einen Konsens im Plenum brauche. Für die Bereitstellung eines Versorgungsprogramms erwartet Hess in den medizinischen Zentren ein Mindestaufkommen von 15 Fällen pro Jahr. Auch müssen Leistungen abgelehnt bzw. wie beim Off-label-use von der Solidarfinanzierung der GKVen ausgeschlossen werden, wenn es keine ausreichende Evidenz gibt. Für die Richtlinienentscheidungen des G-BA sind Vergleichsbetrachtungen zwischen höchstverfügbarer und höchstmöglicher Evidenz ausschlaggebend. Hess: „Es gibt immer eine Möglichkeit, Klarheit zu schaffen – auch mit sehr kleinen Patientenzahlen. Wir haben aktuell für vier seltene Krankheiten beantragte Behandlungen trotz schwacher Evidenz positiv beschieden.“

Evidenzlevel darf nicht zum Strafmaß für Patienten mit seltenen Krankheiten werden

Die BMG-Referentin Dr. Mattenklotz stellt dar, dass der Staat seiner Aufgabe, sich um die Gesundheit aller Bürger zu kümmern, auch im Bereich der seltenen Krankheiten nachkommt. Als Beispiel für den Bereich der Arzneimittelversorgung verweist sie auf § 73 d SGB V (Verordnung besonderer Arzneimittel), der in besonderen Fällen die Anwendung von Arzneimitteln im Zuge klinischer Studien zu Lasten der GKV zulässt. Darüber hinaus unterstütze das BMG konkrete Informations- und Aufklärungsprojekte für Patienten mit Orphan Diseases.

Patienten mit seltenen Krankheiten haben die gleichen Bedürfnisse wie der Patient mit einer Volkskrankheit: Aus Sicht des Patienten-Vertreters Dr. Reimann sollte nicht der Patient den Bedürfnissen des Gesundheitssystems, sondern das System den Bedürfnissen des Patienten angepasst werden. Patienten mit seltenen Krankheiten haben keine Zeit zu verlieren. Deshalb plädiert Reimann auch bei unsicherer Evidenzlage für eine Behandlung zu Lasten der GKV. Das allerdings immer in Verbindung mit evidenzgenerierender Dokumentation, zeitlicher Befristung und der Überprüfung des Behandlungserfolgs.

Fazit: Ob häufige oder seltene Krankheiten: Jeder Patient hat ein Recht auf die bestmögliche Behandlung. Bei seltenen Krankheiten müssen dafür die Rahmenbedingungen und die Kriterien der Evidenzbewertung angepasst werden. Nur durch eine gut koordinierte Forschung können hinreichende Erkenntnisse in den Grundlagen, der klinischen Anwendung und der Versorgung zum Thema seltene Krankheiten gewonnen werden.

Flyer zur Veranstaltung

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