Kann Prävention das Gesundheitssystem retten?
Prävention steht im Fokus des 8. Eppendorfer Dialogs zur Gesundheitspolitik
Das Ziel ist klar, der Weg steinig: Prävention sollte für jeden so selbstverständlich sein wie die Zahnpflege. Aber die Realität sieht anders aus: Eine zu 50 Prozent übergewichtige Bevölkerung und die Zunahme lebensstilgeprägter Erkrankungen erzeugen Unverständnis über das Fehlen verbindlicher Regelungen für Prävention in Deutschland. Liegt es am unbeweglichen System, das Finanzmittel in erster Linie für kurative Medizin einsetzt? An zwischenparteilichen Machtkämpfen, die ein Gesetz für Prävention verhindert haben? An fehlenden evidenzbasierten Standards, wie die Krankenkassen argumentieren? Oder gibt es andere Motive für die sträfliche Vernachlässigung von Prävention in einem vor dem Kollaps stehenden Gesundheitssystem?
Dr. Thomas Suermann
Stv. Vorsitzender des Ausschusses „Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation“ der Bundesärztekammer
Dietrich Monstadt
Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages
Birgit Fischer
Vorsitzende des Vorstandes der BARMER GEK
Werner Kieser
Präsident des Verwaltungsrates der Kieser Training AG
Präventionskultur ist in Deutschland verloren gegangen
Das Thema Prävention brennt förmlich unter den Fingernägeln, denn vermeidbare Erkrankungen nehmen stetig zu. Europaweit bedingen sieben verhaltensbedingte Risikofaktoren (von Tabakkonsum bis Bewegungsmangel) 60 Prozent der Gesamterkrankungen, und nur wenige Auslöser des Myokardinfarkts sind über Arzneimittel beeinflussbar – die meisten aber über Prävention. Im internationalen Vergleich sticht Japan mit der höchsten Lebenserwartung bei zugleich höchster Lebensqualität und geringen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben positiv hervor. Dahinter stecken Präventions-Maßnahmen der 60er Jahre wie moderate Ernährung und ausgleichende Bewegung. Für Deutschland beklagen die Experten
- die mangelnde Planung und Effizienz von Präventions-Programmen,
- die fehlende gesetzliche Verankerung von Prävention sowie
- eine Fehlsteuerung, die ausgerechnet Risikogruppen vernachlässigt.
Prävention wird nur über gesamtgesellschaftliche Penetranz alltäglich
Auch Dr. med. Thomas Suermann, Stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses „Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation“ der Bundesärztekammer, bemängelt eine Fehlverteilung der Ausgaben. 62 Prozent der Gesundheit sind im Lebensstil begründet, doch die meisten finanziellen Mittel fließen in die 10 Prozent, die nur kurativ zu behandeln sind. 90 Prozent der Fälle von Typ II-Diabetes wären durch Änderung der Lebensgewohnheiten und Prävention vermeidbar. „Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, so Suermann. Der Einzelne muss Vorsorgeprogramme stärker in Anspruch nehmen, die Politik bessere Bedingungen schaffen, die Medien aktiv Aufklärung betreiben. Als vertrauenswürdige Motivatoren sind Ärzte der geeignete Zugangskanal für Prävention. Der nicht-monetäre Nutzen von Prävention ist unstrittig, der monetäre Nutzen laut Suermann nicht abschließend zu klären. Während Screenings, Impfungen und zusätzliche Rentenzahlungen teuer sind, spült Prävention über erhöhte Arbeitsfähigkeit, geringere Lohnersatzleistungen und Arbeitsplätze im 2. Gesundheitsmarkt Geld in die öffentlichen Kassen.
Prävention ist auch Aufgabe des Einzelnen
Was kann der Einzelne präventiv für sich tun? Gezielt Muskeln aufbauen, lautet die Antwort von Werner Kieser, Präsident des Verwaltungsrates Kieser Training AG. Seiner Ansicht nach leidet die Gesellschaft weniger unter Bewegungsmangel als unter einem chronischen Mangel an adäquatem Widerstand. „Ein breites Spektrum von Beschwerden verschwindet, wenn Sie Ihre Kraft erhöhen“, so Kiesers Überzeugung. Prävention ist für ihn die Verhinderung der Rückbildung von Körperfunktionen und ungenutztem Gewebe. Bis ins hohe Alter können katabole Prozesse durch gezieltes Training in anabole Verläufe umgewandelt werden. Was also hindert Entscheider daran, Kiesers Versorgungskonzept in den Leistungskatalog der GKV zu integrieren? Eine Antwort liefert seines Erachtens eine Theorie des Soziologen Niklas Luhmann, nach der Bürokratien automatisch Mechanismen zu ihrer Selbsterhaltung entwickeln. Der Vorwurf wiegt schwer: Krankheiten schaffen Tausende von Arbeitsplätzen und finanzieren letztlich das gesamte Gesundheitssystem. Kiesers polemisches Resümee: „Ernsthaft interessiert an Prävention ist in Wirklichkeit ausschließlich das betroffene Individuum.“
Ausrichtung liegt auf Therapie, nicht auf Prävention
Birgit Fischer (Vorsitzende des Vorstandes der BARMER GEK), räumt ein, dass im Gesundheitswesen einige Weichen falsch gestellt wurden. Mit der Ausrichtung auf Therapie statt auf Prävention folgt die Finanzierung einem falschen Verteilungsmodus. Gleichzeitig ist es für Krankenkassen unwirtschaftlich, in Prävention zu investieren, die sich erst in der Zukunft auszahlt. Um Präventionspotenziale besser auszuschöpfen, setzt sich Fischer für settingbezogene Gesundheitsförderung z. B. am Arbeitsplatz. Über das Öffentlichmachen von Themen und eine verständliche Aufbereitung von Informationen will die BARMER GEK den Mainstream in der Gesellschaft beeinflussen. Ein Präventionsgesetz, das vorhandene Strukturen weiterentwickelt, hält Fischer für unabdingbar. Trotzdem zeigt sie Verständnis für die Politik: „Prävention kann nicht übers Knie gebrochen werden. Wir brauchen in allen Bereichen Standards, mit denen wir Qualitätskriterien festlegen und überprüfen.“
Nachhaltige Prävention braucht finanzielle Anreize
Die vortragsleitende Frage „Ist Prävention eine politische Aufgabe?“ beantwortet Dietrich Monstadt, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, mit einem klaren „Ja“. Obwohl die christlich-liberale Koalition ein Gesetz für Prävention abgelehnt hat, sagt Monstadt eine Stärkung von Prävention zu. Statt zusätzliche bürokratische Strukturen zu etablieren, will die Regierung vorhandene Maßnahmen ausbauen und verknüpfen. Ein generell sinnvoller Ansatz, der aber nicht über jahrelangen Dissens und die Tatenlosigkeit der Politik zum Thema Prävention hinwegtröstet. Letztlich, so Monstadt, kann Prävention aber nur über finanzielle Anreize funktionieren. Bei aller Unverbindlichkeit macht Monstadt eines deutlich: Dass die Gesellschaft auf Dauer nicht in der Lage sein wird, das Gesundheitssystem, so, wie wir es heute kennen, zu finanzieren.
Als Wunschkonzept sowie als ethische Notwendigkeit hat sich Prävention zum Lieblingskind aller im Gesundheitssystem beteiligten Akteure entwickelt. Über die inhaltliche Ausgestaltung und die Finanzierung herrscht hingegen noch Dissens. Unterschiedliche Ansätze rivalisieren um Aufmerksamkeit, verfolgen im Kern aber dieselbe Idee: Dass Menschen ihren Gesundheitszustand zum großen Teil selbst in der Hand haben und dass Aufklärung schon von Kindheit an zu mehr Verantwortung des Einzelnen für ein gesundes Leben beiträgt. Erfolgreiche Prävention beinhaltet auch, die sozialen Rahmenbedingungen, z.B. Bildung, zu verbessern – Prävention ist somit nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu leisten.