Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind innovativ, aber in der Praxis noch nicht richtig angekommen
Eppendorfer Dialog debattiert die Hürden, auf die die moderne Erweiterung der Gesundheitsversorgung stößt
Begleitet von viel Enthusiasmus sind die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) als Erweiterung des therapeutischen Spektrums im September 2020 an den Start gegangen. Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) hat die rechtliche Grundlage für diesen Teil der vom Bundesministerium für Gesundheit angestrebten digitalen Transformation im Gesundheitswesen gelegt. Das Ergebnis nach gut drei Jahren und 54 zugelassene DiGA: Ärztinnen und Ärzten sind nicht gut informiert und bemängeln die fehlende Abrechnungsmöglichkeit für die DiGA-Beratung. Krankenkassen sehen die Implementierung in die Versorgung von mangelnden Nutzennachweisen und hohen Preisen behindert. Die Bundesärztekammer moniert eine Nichtunterscheidbarkeit zu Gesundheits-Apps, die Hersteller-Selektivverträge der gesetzlichen Krankenkassen und vor allem, dass die Kassen sich in die DiGA-Verordnungen einmischen. Der Spitzenverband der Digitalen Gesundheitsversorgung und DiGA-Entwickler fordern, dass digitale Produkte digital verordnet und sofort digital zugänglich sein müssen. Für Anbieter verordnungsfähiger DiGA sind die Medizinprodukte in erster Linie defizitär. Viele Regularien und Hürden behindern diese wichtige Versorgungsinnovation. Kann das Digital-Gesetz (DigiG) entscheidende Verbesserungen bringen? Das alles diskutierte der Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik am 24. Januar 2024 in Hamburg aus allen Perspektiven.
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Dr. med. Amin-Farid Aly
Thorsten Busse
GKV-Spitzenverband
Henrik Emmert
Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung, SVDGV, Geschäftsführer sidekick Rx/aidhere GmbH
Dr. med. Alexandra Widmer
Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie und
Host des DOCSDIGITAL Podcast und Videocast
Talk-GastProf. Norman Uhlmann
CEO h3ko Unternehmensgruppe
Den meisten Ärzten fehlt das Wissen zum Umgang mit DiGA
Dr. Alexandra Widmer (Neurologin, Psychotherapeutin und Gründerin von docsdigital) setzt sich intensiv für die Versorgungsausweitung mit DiGA ein. Aus ihrer Sicht werden DiGA noch viel zu wenig in die Therapie eingebunden. Aus eigener praktischer Erfahrung sieht sie in DiGA ein Instrument der Patientenbindung mit positiven Versorgungseffekten. Aber: „Viele Kolleginnen und Kollegen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, und welche Erwartungs-haltung mit einer-Verordnung verbunden sind“, so Dr. Widmer. Dass Patienten zudem auf eine Bestätigung ihrer Krankenkasse bis zu drei Wochen warten müssen, hält sie für unhaltbar und kontraproduktiv. Sie fordert intensive Fortbildung der Ärzteschaft. Jeder Verordnende sollte den Unterschied zwischen einer frei nutzbaren, risikobehafteten Gesundheits-App und einer als Medizinprodukt zugelassenen DiGA kennen. Auch der Nutzen der DiGA und das Einschätzungsvermögen, ob eine Applikation zum jeweiligen Patienten passt, sollte durch Fortbildung gefördert werden. Dr. Widmer: „Es muss jedem klar sein, dass eine Tablette eine rasche Wirkung hat, während die positiven Effekte von DiGA längerfristig und anhaltend sind.“ Solange Ärztinnen und Ärzte den Nutzen von DiGA nicht erkennen, wird es wenig Motivation für deren Einsatz geben – zumal die intensive Beratung und Begleitung der Patientinnen und Patienten nicht abrechenbar ist. Sie regt an, die Ärzteschaft stärker einzubinden und Schnittstellen zu installieren. Nur so könne es gelingen, DiGA als echten Zugewinn in die Versorgung zu integrieren.
„Wir binden DiGA zu wenig in die tägliche Patientenversorgung ein, weil wir uns damit überfordert fühlen.“
Dr. med. Alexandra Widmer
GKV-Spitzenverband kritisiert das Zulassungsverfahren
60 in das DiGA-Verzeichnis aufgenommene DiGA seit 2020, in der Mehrzahl für Indikationen mit sehr hoher Prävalenz, über 370.000 eingelöste Freischaltcodes und eine langsam aber stetig ansteigende Mengenentwicklung: DiGA kommen außergewöhnlich schnell in die Gesundheitsversorgung. Denn erstmalig ist an der Zulassung ausschließlich das BfArM beteiligt, das als weiteres Novum mit Fast-Track ein nur dreimonatiges Zulassungsverfahren konzipiert hat. DiGA Hersteller müssen auch für eine vorläufige Aufnahme in das DiGA Verzeichnis Evidenz erbringen; das BfArM entscheidet, ob die erbrachten Daten für eine Aufnahme ausreichen. Die Krankenkassen kritisieren in diesem Zusammenhang, dass kein ausreichendes Bewertungsverfahren zugrunde liege und zum andern ein Erprobungszeitraum von bis zu zwei Jahren in Anspruch genommen werden könne, während-dessen die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet sind, die zugelassenen Gesundheitsapplikationen zu erstatten. Thorsten Busse, Referat Digitale Gesundheitsanwendungen beim GKV-Spitzenverband: „Wir sehen in den DiGA ein großes Potenzial zur Verbesserung der Versorgung, haben jedoch erhebliche Kritikpunkte am bisherigen gesetzlich vorgegebenen Bewertungsverfahren.“ Konkret gemeint ist, dass Versichertenbeiträge für hochpreisige Anwendungen ausgegeben werden, deren Nutzennachweis und Evidenz fehlen. Auch stünden die Preise vieler Erprobungs-DiGA in keinem Verhältnis zu den dauerhalft zugelassenen DiGA mit bereits verhandeltem Preis.
„Hohe Preise bei noch fehlenden Nutzennachweisen behindern die Implementierung von DiGA.“
Thorsten Busse
Eine verpflichtende Aufgabe: Der Arztberuf in der digitalen Transformation
Auch Dr. med. Amin-Farid Aly von der Bundesärztekammer betont, dass sich Ärztinnen und Ärzte auf den Nutzen und die Sicherheit von Gesundheitsapplikationen verlassen können müssen. Er weist darauf hin, dass es für DiGA konkrete Gütekriterien gemäß § 33a SGB V gibt, aber keinerlei Gütekriterien für die unzähligen Gesundheits-Apps am Markt. Damit kritisiert er Selektivverträge der Krankenkassen, die einerseits schärfere Bewertungsverfahren und Nutzennachweise für DiGA fordern, aber andererseits Versorgungsverträge mit Anbietern von Nicht-Medizinprodukten schließen. Weiter empfiehlt er der Ärzteschaft, sich mit den DiGA-Versorgungsmöglichkeiten, die zur Berufsausübung gehören, intensiver zu befassen und Potenziale für Patienten abzuschätzen. Hier gelte das Gleiche wie bei jeder neuen Medikation bzw. jedem neuen verordnungsfähigen Medizinprodukt: Ärztinnen und Ärzte müssten sich informieren. Aly bezeichnet DiGA als fortschrittliche Versorgungsoption. Er empfiehlt den Landes-Ärztekammern eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema sowie die Erweiterung entsprechender Aus-, Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten und regt die Einführung eines zentralen, niedrigschwelligen und herstellerunabhängigen Registers für alle Apps an.
„Ärztinnen und Ärzte müssen sich über den Nutzen, Risiken und die Real-World-Evidence von medizinischen Apps schnell und niederschwellig informieren können.“
Dr. med. Amin-Farid Aly
Ein nachhaltiger DiGA-Markt braucht bessere regulatorische Bedingungen und mehr Integration
Auch Henrik Emmert vom Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV) und Geschäftsführer der Sidekick Health Germany GmbH, weist darauf hin, dass Ärztinnen und Ärzte mehr integriert, mitgenommen und auch adäquat vergütet werden müssen., damit das Innovationsprojekt DiGA die Chance hat, sich zu einem Erfolg zu entwickeln. In Deutschland wolle man Vordenker in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen sein, und lege selbst bei richtig guten Projekten immer wieder bürokratische Steine in den Weg. Emmert kommt auf das DigiG zu sprechen und sieht darin die Chance für Verbesserung der Telemonitoring-Möglichkeiten und die Einbindung des TI-Messengers in die DiGA. „Eine ganz wesentliche Verbesserung ist die 48-Stunden-Frist für die Codeausgabe. Dadurch kommen Patienten rasch an die DiGA“, so Emmert.
„Der Zugang zu DiGA ist die größte Hürde für DiGA – gefolgt von fehlender Fortbildung für Ärztinnen und Ärzte.“
Henrik Emmert
25 Jahre Digitalisierungsstau im Gesundheitswesen müssen u. a. mit DiGA aufgeholt werden
Abschließend bricht der Digitalisierungsexperte Prof. Dr. Norman Uhlmann (CEO h3ko) die Lanze für die DiGA „Die digitale Medizin ist ein wesentlicher Baustein der medizinischen Versorgung, der nicht nur im ländlichen Raum immer wichtiger wird.“ 25 Jahre Digitalisierung im Gesundheitssystem aufzuholen, sei nicht so einfach, betont Prof. Uhlmann, aber die DiGA und das DigiG böten die Grundlage dafür, mindestens 10 Jahre einzuholen. Es müsse allen Teilnehmenden am Gesundheitssystem bewusst sein, dass die Digitalisierung in nahezu allen Bereichen unumgänglich sei. Jede und jeder müsse dazu beitragen und sich aktiv mit den Digitalisierungsthemen beschäftigen. Uhlmann kommt auch auf das Kostenthema zu sprechen: „Wir haben vom GKV-Spitzenverband gehört, dass die Herstellerpreise für DiGA hoch sind. Aus meiner breiten Erfahrung in der DiGA-Entwicklung kann ich sagen: 60 % der Kosten sind regulatorische Kosten. Wer heute DiGA auf den Markt bringt, arbeitet defizitär, was das Investitionsklima trübt. Das sollten wir uns bewusst machen und es ändern. Medizinprodukte haben das Potenzial für einfachere Prozesse und ein breites Behandlungsspektrum – auch ohne vermeintliche Kostenexplosion bei den Kassen.“
„Wir haben Daten, sind aber nicht in der Lage, diese bestmöglich zu nutzen. Das müssen wir ändern.“
Prof. Dr. Norman Uhlmann
Fazit: Der 25. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik gab spannende Einblicke in die Digitalisierungsproblematik im Gesundheitswesen und die Hürden in der Versorgung mit DiGA. Am Ende steht der Appell, dass es viel Nach- und Aufholbedarf gibt. Die DiGA gehören inzwischen fest zur gesundheitlichen Versorgung in vielen Bereichen. Es müssen allerdings noch einige strukturelle Änderungen vorgenommen werden – nicht zuletzt an der Einstellung vieler Ärztinnen und Ärzten – , um die Apps zu einem für alle Seiten positiven Bestandteil der therapeutischen Versorgung werden zu lassen.
Präsentation der Referenten
Dr. med. Amin-Farid Aly
Gesundheitsapps in der Versorgung – Unter welchen Voraussetzungen können Verordnende mit DiGA erfolgreich arbeiten?
Thorsten Busse
Die Zukunft der DiGA aus Sicht der GKV – 3 Jahre Fast-Track
Henrik Emmert
Das Digitalgesetz: Fluch oder Segen für die digitale Gesundheitsversorgung durch DiGA?
Prof. Norman Uhlmann
Die digitale Transformation des Gesundheitswesens: Sind wir mit DiGA auf dem richtigen Weg?