Wie hoch dürfen Krankheitskosten sein?

3. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik diskutiert zwischen Wirtschaftlichkeit und Nutzen

Provokante Frage aus dem realen medizinischen Alltag: Eine 79-jährige Raucherin mit Bronchialkarzinom lebt nach Ausreizen der Standardtherapie durch eine chemotherapeutische Behandlung noch 17 Monate. Die Solidargemeinschaft wird mit Krankheitskosten in Höhe von 30.000 Euro belastet. Stehen Kosten und Überleben in angemessener Relation? Ein brisantes Thema vor dem Hintergrund, dass sich die Gesundheitskosten in Deutschland seit 1985 verdoppelt haben und der Anstieg mit etwa 4,6% jährlich deutlich den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts übersteigt. Medizinischer Fortschritt und der demografische Wandel haben ihren Preis – aber wer zahlt?

Referenten

Kosten-Nutzen-Bewertung für Krankheitskosten ist unethisch

Einig war sich die Expertenrunde insoweit, dass die Kosten-Nutzen-Bewertung allein auf Basis randomisierter Studien weder medizinisch noch ethisch vertretbar ist. Appell an die gesundheitspolitischen Entscheider: Die gesamtgesellschaftliche Perspektive und die Behandlungsrealität unter Alltagsbedingungen müssen bei der Bewertung von Krankheitskosten deutlich stärker berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat man in Deutschland eine adäquate Versorgungsforschung versäumt. Hier muss dringend etwas geschehen, um entscheidungsrelevante Daten zu generieren – und Krankheitskosten einzudämmen.

Trotz hoher Krankheitskosten mangelt es in Deutschland an Qualität und Effizienz

Die ökonomische Bedeutung der Gesundheitswirtschaft in Deutschland ist gewaltig: Sie hat mehr als 4,2 Millionen Beschäftigte, ist mit etwa 20 Prozent die einzige Branche, die ein stetiges Wachstum zeigt. Die andere Seite der Medaille: Jährlich 250 Milliarden Euro an Krankheitskosten, wobei die GKVen mit rund 140 Milliarden Euro größter Ausgabenträger sind. 24 Milliarden sind reine Arzneimittelkosten. Damit nimmt Deutschland einen internationalen Spitzenplatz ein. Trotzdem gibt es im hiesigen Gesundheitswesen Mängel: zu viel Bürokratie, zu geringe Effizienz. Aufgrund der absehbaren demografischen Entwicklung stellt die Zukunft noch höhere Anforderungen an die medizinische Versorgung, denn die Krankheitskosten nehmen mit dem Alter zu.

Bei Krankheitskosten hinkt Versorgungsforschung hinterher

UKE-Dekan Prof. Dr. Dr. Uwe Koch-Gromus bemängelt, dass die Versorgungsforschung neben der klinischen Forschung in Deutschland nie den ihr gebührenden Stellenwert erlangt hat. Heutige Versorgungsdefizite lassen sich auf zu geringe Anreize und daraus resultierend auf fehlende versorgungsepidemiologische Studien zurückführen. Auch seien die primären Kostenträger der Gesundheitsversorgung (GKV, RV) zu stark von kurzfristigem Verwertungsinteresse geprägt.

Die anderen Experten schlagen in der Frage der Krankheitskosten in die gleiche Kerbe: Um begrenzte Mittel gerecht zu verteilen, braucht man Kenntnis der realen Versorgungssituation – und die lässt sich nur mit den Methoden der Versorgungsforschung darstellen. Während in die Erforschung von medizinischen Innovationen erhebliche Mittel investiert werden, fehlen konkrete Daten, wem diese Innovationen unter welchen Umständen zugutekommen können.

Wirtschaftlichkeitsbewertung spiegelt nicht die tatsächlichen Krankheitskosten wider

Als „Schmalspurökonomie“ bezeichnet Prof. Dr. Dr. Reinhard Rychlik, Institut für Empirische Gesundheitsökonomie, die Kosten-Nutzen-Bewertung einer Gesundheitspolitik, die die gesellschaftlichen Perspektiven außer Acht lässt. Insbesondere das IQWiG, dessen Nutzenbewertungen dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Empfehlungen zur Beschlussfassung vorgelegt werden, hat laut Rychlik keinen internationalen Standard. Man könne nicht ernsthaft eine Nutzenberechnung weitgehend anhand der direkten Krankheitskosten erstellen, ohne dabei die indirekten Kosten zu berücksichtigen.

Kosten-Nutzen-Bewertung keine Hürde, sondern notwendige Differenzierung

Prof. Dr. Gerd Glaeske, Institut für Sozialpolitik in Bremen, ist anderer Meinung, dass in Deutschland durchaus eine tragbare Basis für die Analyse der medizinischen Versorgung besteht. Er räumt zwar ein, dass derzeit noch Kosten-Nutzen-Studien unter Berücksichtigung der gesamten Krankheitskosten fehlen und patientenorientierte Kriterien nur fragmentiert berücksichtigt werden. Er zeigt sich jedoch überzeugt, dass der Sachverständigenrat konsequent daran arbeitet, alle relevanten Aspekte aus dem Versorgungsmix in die Überlegungen einzubeziehen. Glaeske bemängelt eine bewusst geschürte „gefühlte Unterversorgung“ bei Ärzten und Patienten, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe.

Der Patient selbst wird in die Diskussion um Krankheitskosten nicht einbezogen

Die Patientensicht findet in der Debatte keine Berücksichtigung, bemängelt Sibylle Herbert, Autorin des Buchs „Diagnose: unbezahlbar – Aus der Praxis der Zweiklassenmedizin“. Herbert: „Der Arzt wird täglich mit Patienten konfrontiert, die nicht zum Beipackzettel passen. Und die soll er dann nach Standard behandeln.“ Wenn man über den Nutzen von Therapien entscheiden soll – wie das IQWiG – kann man nicht auf die Meinung und Erfahrung von Patienten verzichten. Für Sibylle Herbert, die sich aufgrund eigener Erfahrung seit längerem mit dem Gesundheitssystem und Krankheitskosten beschäftigt, ist eine intensive öffentliche Debatte notwendig, damit sich die Menschen in die Entscheidung dessen einmischen, was schnell einmal entscheidend für sie sein könnte: eine bedürfnisorientierte Gesundheitsversorgung.

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